Madulain Mi Aug 19, 2009 7:52 pm
Der Rückweg in das Heimatdorf würde lange und beschwerlich werden. Madulain hatte in aller Frühe ihr Bündel gepackt, das Nordtor Randols durchschritten und begab sich auf die alte Straße Richtung Gebirge. Da Reisende auch in diesen Tagen unserer Erzählung selbst in Juno noch vereinzelt von Räubern überfallen wurden (die Männer des Prinzen Mamphil bemühten sich jedoch nach Kräften, für sichere Wege zu sorgen), verließ sie bald den Pfad und wanderte auf hohem Gras durch die hügelige Landschaft, nicht ohne desöfteren zu verharren und vorsorgliche Blicke nach allen Seiten zu werfen.
Die junge Frau, eine unauffällige Gestalt in der weiten Gegend, gekleidet mit einfachen Stoffen, die die Strapazen langer Reisen zeigten, war es gewohnt, sich abseits befestigter Straßen zu bewegen. In ihrer Heimat Merak kam es einem Todesurteil gleich, die alten Handelswege zu benutzen. Also gewöhnten sich die Leute an, mit aller Vorsicht abseits der Pfade durch die Wälder zu reisen, um Begegnungen mit Wegelagerern und noch viel finsteren Gestalten zu vermeiden.
Die Merakerin war im Auftrag ihres Oheims, des Stammesführer Karis Nebelkrähe, unterwegs. Das Dorf hatte in der Jagdzeit große Beute gemacht und nun suchte man wohlhabende Händler, die gutes Gold für Pelze und Leder zahlten. Da der Handel in Merak nach den bereits beschriebenen Vorkommnissen praktisch zum Erliegen kam, suchten die Menschen von Merak ihr Glück im südlichen Juno. Und da Madulain eine der wenigen ihres Dorfes war, die die Sprache derer von Juno redlich beherrschten, und sie auch den Umgang mit den Leuten der Stadt in gepflegter Manier betreiben konnte, wurde sie auf solche Reisen geschickt.
Von der Grenze Junos würde sie nach zweitägigem Marsch durch die Berge zu ihrem Dorf in den Osten Meraks gelangen. Nach Kherum, dem alten Fürstensitz ganz im Norden, der zu unserer Zeit nur noch ein unansehnliches Nest war, würde es nochmals zwei Tage dauern. Immer auf der Hut vor den Gefahren, die da lauerten.
Wie so viele Leute in Merak hatte Madulain eine bewegte Vergangenheit. Als kleines Mädchen, kaum imstande die Ereignisse zu begreifen und bar jeder Erinnerung, wurde sie bei einem der unzähligen Überfälle Mogbors auf das kleine Städtchen ihrer Eltern zur Vollwaise. Eine Truppe griesgrämiger, aber mutiger Männer nahm sich der wenigen Überlebenden an und führte sie in das eigene Dorf. Dort übernahm Karis Nebelkrähe das kleine Mädchen und so verbrachte Madulain den Rest ihrer Kindheit im Haus des Stammesführers, einem leicht erregbaren, aber im Grunde gutmütigen Mann, der sich unbeholfen, aber dank der Unterstützung der Frauen seines Harems anständig um die Erziehung der Kleinen bemühte. Trotz des Unglücks, trotz der übellaunigen, häufig betrunkenen, aber dennoch liebenswerten Männer, trotz der ständigen Gefahren für das Dorf und trotz des anstrengenden und schweren Lebens hatte Madulain doch ein gutes Los getroffen im Vergleich zu den schlimmen Schicksalen anderer Vertriebener und Waisen.
In der Frühe ging sie gewöhnlich wie alle Mädchen des Dorfes den Frauen zur Hand, half bei der Feldarbeit oder beim Waschen und erledigte Arbeiten im Hause ihres Oheims. War das getan und hatte die Sonne den höchsten Stand am Himmel überschritten, spielte sie mit den Kindern im Dorf. Eines Tages begab es sich jedoch, dass ihr Leben eine Änderung erfuhr - warum dies passierte, darüber zerbrach sich das Mädchen nicht den Kopf. Und auch später, als Madulain langsam zur Frau wurde, machte sie sich keine Gedanken darüber, wieso ausgerechnet sie, eine Waise aus einem kleinen Dorf in den Bergen Meraks, dem Herrn Delaxuente und der Magierin Fauna vorgestellt wurde.
An besagtem Tag, als Madulain das Alter von zehn Jahren erreichte, rief sie der Oheim zu sich: "Ziehtochter, man verlangt Dich zu sehen. Ich werde Dich hinbringen. Folge mir!" Sie gingen einen halben Tagesmarsch in südlicher Richtung durch den Wald und erreichten auf einer großen Lichtung ein verfallenes Gemäuer. In besseren Tagen muss es sich um eine kleinere Festungsanlage gehandelt haben, doch nun waren nur noch Ruinen zu sehen. Lediglich der Donjon, ein runder Wehrturm, stand halbwegs intakt zwischen den Steinhaufen. Das Kind Madulain folgte dem Stammesführer neugierig, als dieser sich dem Eingang des Turmes näherte.
Drinnen führten hölzerne Treppenstufen in das erste Stockwerk des Gebäudes, wo es sich jemand offensichtlich wohnlich gemacht hatte. Kerzen spendeten Licht, verschiedene Möbel standen im Raum und allerlei seltsame Apparaturen waren aufgebaut, die Madulain nie zuvor gesehen hatte. Gerade wollte sie ihren Oheim fragend anschauen, als ein Vorhang zur Seite glitt und durch den Durchgang ein älterer Mann und eine hochgewachsene Frau in feinen Gewändern den Raum betraten. So lernte Madulain, das Waisenkind aus Merak, den Lehrer Delaxuente und die Magierin Fauna kennen.
(Fortsetzung folgt...)